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Jörg Wojahn zu 30 Jahren Deutsche Einheit: „Europa war maßgeblich am Aufbau Ost beteiligt“ © Europäische Union, 2019, Quelle: EU-Kommission - Audiovisueller Dienst, Fotograf*in: Lukasz Kobus

30.09.2020 Berlin. Mit der Wiedervereinigung vor 30 Jahren traten die Bürgerinnen und Bürger der DDR auch in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ein – der heutigen Europäischen Union. Das geschah damals ohne Beitrittsverhandlungen, ohne Vorbedingungen. Am Aufbau Ost hat sich Europa seither maßgeblich beteiligt, schreibt Jörg Wojahn, der Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland, in einem Gastbeitrag für die in Dresden erscheinende „Sächsische Zeitung“. Heute sind die ostdeutschen Bundesländer fest eingebunden in das geeinte Europa. „Die EU ist der größte Exportmarkt für ihre Unternehmen und sichert Millionen Arbeitsplätze“, so Wojahn. „Ich wünsche mir, dass die Menschen sehen, wie wertvoll das gemeinsame Europa für ihr persönliches Leben ist.“

„Freie und faire Wahlen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – seit Wochen gehen zehntausende Menschen in Belarus für diese Grundrechte auf die Straße, die auch die Grundpfeiler unserer Europäischen Union sind. Die Situation erinnert an 1989, als hunderttausende DDR-Bürgerinnen und -Bürger friedlich in Leipzig, Dresden, Berlin, Magdeburg und an vielen anderen Orten ebenso für diese Rechte demonstriert haben“, schreibt Wojahn im Wortlaut.

„Die Menschen in der DDR haben der Welt bewiesen, dass es möglich ist, Mauern einzureißen und sich friedlich den Weg in die Demokratie zu erkämpfen.

Knapp ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, traten 16,4 Millionen DDR-Bürgerinnen und Bürger gleichzeitig der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bei – der heutigen Europäischen Union. Während Beitrittskandidaten sonst mehrere Jahre Zeit haben, um ihre Wirtschaft und Gesellschaft auf eine Mitgliedschaft in der EU einzustellen, mussten die Menschen in der DDR es in nur wenigen Monaten schaffen. Sie sind per Beitritt zur Bundesrepublik sozusagen in die EG hineingeschlittert – ohne Beitrittsverhandlungen, ohne Vorbedingungen, anders als etwa die Nachbarn in Polen oder Tschechien.

Fast alles, was an Neuem auf die Ostdeutschen zukam, war freilich zunächst einmal das, was die Bundesrepublik mit sich brachte. Die EWG war noch weit von dem entfernt, was wir heute als EU kennen. Es gab damals weder Schengen noch den Euro, sogar der gemeinsame europäische Binnenmarkt startete erst 1993. Teil eines gemeinsamen Europas zu sein, war Anfang der 90er Jahre noch nicht so im Bewusstsein der Deutschen wie heute – auch in der alten Bundesrepublik nicht.

Doch Europa hat sich nach 1990 rasant weiterentwickelt. In diesen 30 Jahren haben die Menschen in Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern viel zu dieser Entwicklung beigetragen.

Die Zeit nach der Wiedervereinigung war für viele der neuen EU-Bürgerinnen und Bürger schwierig. Das Bruttoinlandsprodukt in Ostdeutschland brach 1991 um fast 35 Prozent ein. Die Arbeitslosigkeit schnellte in die Höhe; 2005 erreichte sie fast 20 Prozent. Die ostdeutsche Industrieproduktion schrumpfte rapide. Hunderttausende wanderten ab.

Wo stehen wir heute? Die Arbeitslosigkeit ist auf 7,8 Prozent gesunken. Die ostdeutschen Bundesländer sind fest eingebunden in den Binnenmarkt und ein wichtiges Glied europäischer Wertschöpfungsketten. Die EU ist der größte Exportmarkt für ihre Unternehmen und sichert Millionen Arbeitsplätze. Thüringen hat im Schnitt der letzten zehn Jahre 70 Prozent seiner Exporte in die EU geschickt. In Sachsen waren es im ersten Halbjahr 2020 während der Pandemie 42 Prozent. Sachsens wichtigste Exportmärkte in der EU sind Tschechien und Polen. Die sächsischen Ausfuhren allein in diese beiden EU-Nachbarländer (zusammen 1,84 Milliarden Euro im ersten Halbjahr 2020) übertreffen die Exporte nach Russland (261 Millionen Euro) um das Siebenfache.

Die offenen Grenzen gehören zum Alltag – zum Reisen, Arbeiten, Lernen oder Studieren. Weit über hunderttausend junge Menschen aus den ostdeutschen Bundesländern haben mit europäischen Bildungsprogrammen ihre Aus-oder Weiterbildung oder ihr Studium teilweise oder ganz in anderen EU-Mitgliedstaaten absolviert. Herausragende Forscher aus Ostdeutschland arbeiten in europäischen Verbünden gemeinsam an Zukunftsfragen und werden dabei von EU-Förderprogrammen unterstützt.

Nach der deutschen Wiedervereinigung hat die EU sich maßgeblich am Aufbau in Ostdeutschland beteiligt. Allein zwischen 2000 und 2013 flossen Fördergelder aus den europäischen Regional- und Sozialfonds in Höhe von rund 31 Milliarden Euro nach Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen. In der Förderperiode 2014-2020 wurden für ganz Deutschland weitere 16,6 Milliarden Euro bewilligt, der größere Teil davon in den neuen Ländern.

Auch beim klimafreundlichen Umbau der europäischen Wirtschaft, dem Europäischen Green Deal, wird Ostdeutschland zusätzliche Chancen bekommen und sie zu nutzen wissen. Die unvermeidbaren Lasten für die Regionen, die besonders von CO2-intensiven Industrien wie der Braunkohle geprägt sind, wird der neue europäische „Fonds für einen gerechten Übergang“ gezielt mindern, in der Lausitz ebenso wie in Polen und Tschechien.

Ich wünsche mir, dass diejenigen, die in den letzten 30 Jahren den Wandel erlebt und mitgestaltet haben, ihre Erfahrungen und ihr Wissen bei der Weiterentwicklung der EU einbringen. Ich wünsche mir, dass die Menschen sehen, wie wertvoll das gemeinsame Europa für ihr persönliches Leben ist. Denn wir in den europäischen Institutionen können unser Europa nicht allein verteidigen. Es ist unser aller Europa. Ich wünsche mir, dass grenzüberschreitende Städtepartnerschaften gedeihen und unsere gewählten Politikerinnen und Politiker in Kommunen und Ländern Entscheidungen ihrer Parteien auf europäischer Ebene auch vor Ort vertreten. Ich wünsche mir, dass die Unternehmerinnen und Unternehmer in den Betrieben und zivilgesellschaftliche Akteure vom Vogtland bis nach Görlitz, von Torgau bis nach Sebnitz ihre Erfahrungen mit Europa teilen.

Ich wünsche mir, dass wir uns gemeinsam an die Erfahrungen von 1989 erinnern und daran, wie wichtig es ist, unsere Werte wie Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu behaupten – in der EU, aber auch außerhalb der EU.“

Quelle dieser Informationen: EU-Nachrichten der Vertretung der EU-Kommission in Deutschland.