30.01.2019 Brüssel. Da es zunehmend wahrscheinlicher wird, dass das Vereinigte Königreich die EU am 30. März dieses Jahres ohne eine Vereinbarung verlassen könnte („No-Deal-Szenario“), hat die Europäische Kommission heute (Mittwoch) letzte Notfallvorschläge für das Programm Erasmus+, die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und den EU-Haushalt verabschiedet. Nach den Abstimmungen gestern Abend im Unterhaus zum Brexit wird Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Nachmittag ab etwa 15:45 Uhr im Europäischen Parlament über das weitere Vorgehen der EU Stellung nehmen. Sie können die Debatte live bei EbS+ verfolgen.
Im Vorfeld hatte der Europäische Rat (nach Artikel 50) im November und Dezember 2018 dazu aufgerufen, die Vorsorge im Hinblick auf die Auswirkungen des Austritts des Vereinigten Königreichs auf allen Ebenen zu intensivieren. Zudem erfolgte am 19. Dezember 2018 die Annahme des „Aktionsplans für den Notfall“ der Kommission, der mehrere legislative Maßnahmen umfasst, sowie der Notfallvorschläge, die in der letzten Woche für die EU-Fischereiwirtschaft vorgelegt wurden. Damit werden die umfangreichen Vorsorgemaßnahmen ergänzt, die die Kommission seit Dezember 2017 in Angriff genommen hat (siehe frühere Mitteilungen über Vorsorgemaßnahmen).
Durch die heute vorgestellten Maßnahmen soll im Falle eines ungeregelten Austritts Folgendes gewährleistet werden:
- Junge Menschen aus der EU und aus dem Vereinigten Königreich, die am 30. März 2019 am Programm Erasmus+ teilnehmen, können ihren Aufenthalt ohne Unterbrechung abschließen.
- Die Behörden der EU-Mitgliedstaaten berücksichtigen bei der Berechnung von Sozialversicherungsleistungen wie Renten auch in Zukunft die im Vereinigten Königreich vor dem Austritt aufgelaufene Versicherungs-, (auch als Selbstständiger erworbene) Erwerbstätigkeits- oder Aufenthaltszeiten.
- Empfänger von EU-Mitteln im Vereinigten Königreich sollen auch künftig Zahlungen im Rahmen ihrer laufenden Verträge erhalten, sofern das Land weiterhin seinen finanziellen Verpflichtungen hinsichtlich des EU-Haushalts nachkommt. Diese Frage ist getrennt von einer künftigen Finanzregelung zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich zu betrachten.
Es ist darauf hinzuweisen, dass diese Maßnahmen die Gesamtauswirkungen eines No-Deal-Szenarios nicht abfedern werden bzw. abfedern können. Ebenso wenig können dadurch unzureichende Vorbereitungen ausgeglichen werden. Es wird auch nicht möglich sein, sämtliche Vorteile einer EU-Mitgliedschaft oder die günstigen Bedingungen für einen Übergangszeitraum – so wie im Entwurf des Austrittsabkommens vorgesehen – nachzubilden.
Die heute präsentierten Vorschläge sind zeitlich befristet, von begrenzter Tragweite und werden einseitig von der EU angenommen. Die mit den Mitgliedstaaten geführten Gespräche sind darin eingeflossen. Die Kommission wird die Mitgliedstaaten weiterhin bei ihren Vorbereitungen unterstützen und sie hat ihre Anstrengungen verstärkt, indem sie beispielsweise Besuche aller Hauptstädte der verbleibenden 27 EU-Mitgliedstaaten organisiert.
Schutz der Rechte von Erasmus+-Teilnehmern
Erasmus+ ist eines der Vorzeigeprogramme der EU. Am 30. März dieses Jahres werden sich dank Erasmus+ 14.000 junge Menschen aus den übrigen EU-Mitgliedstaaten (Studierende, Praktikantinnen und Praktikanten in der Hochschulbildung sowie in der beruflichen Aus- und Weiterbildung, Auszubildende in der Jugendarbeit sowie Lehrkräfte) im Vereinigten Königreich befinden. Umgekehrt werden sich 7.000 Erasmus+-Teilnehmer aus dem Vereinigten Königreich in der EU der 27 aufhalten. Falls keine Austrittsvereinbarung erzielt wird, könnten sie ihren Erasmus+-Aufenthalt nicht abschließen und eventuell kein Stipendium mehr erhalten. Mit dem heute präsentierten Vorschlag soll Abhilfe geschaffen werden. Für Erasmus+-Studierende und -Praktikanten, die sich zum Zeitpunkt des Austritts des Vereinigten Königreichs im Ausland aufhalten, soll bei diesem Szenario gewährleistet sein, dass sie ihren Studienaufenthalt abschließen und weiterhin ihr Stipendien und sonstige Zahlungen beziehen.
Sozialversicherungsansprüche wahren
Die Kommission hat stets deutlich gemacht, dass ihr die Rechte der EU-Bürgerinnen und Bürger im Vereinigten Königreich und die der Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs in der EU sehr wichtig sind. Sie sollten nicht den Preis für den Brexit zahlen. Mit dem heute vorgelegten Vorschlag soll sichergestellt werden, dass bei einem Austritt ohne Abkommen die Ansprüche der Personen, die ihr Recht auf Freizügigkeit vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs ausgeübt haben, gewahrt werden. Dazu gehören vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs aufgelaufene Versicherungs-, (auch als Selbstständiger erworbene) Erwerbstätigkeits- oder Aufenthaltszeiten. Wenn beispielsweise ein Bürger aus den übrigen 27 Mitgliedstaaten vor dem Brexit 10 Jahre lang im Vereinigten Königreich gearbeitet hat, sollte dieser Zeitraum bei der Berechnung seiner Rentenansprüche von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem er in den Ruhestand geht, berücksichtigt werden.
Mit dem Verordnungsentwurf wird sichergestellt, dass die Mitgliedstaaten auch künftig die Grundprinzipien der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der EU (Gleichbehandlung, Gleichstellung von Leistungen und Zusammenrechnung von Versicherungszeiten) anwenden. Der vorliegende Vorschlag kann jedoch in keiner Weise die erheblichen Vorteile des am 14. November vereinbarten Austrittsabkommens nachbilden. Er gilt weder für nach dem 29. März 2019 erworbene Rechte, noch deckt er die Exportierbarkeit von Geldleistungen, die fortlaufende Bereitstellung von Sachleistungen bei Krankheit und die Bestimmungen zu den anwendbaren Rechtsvorschriften ab.
Schutz der Empfänger von EU-Mitteln
Wie bereits mehrfach betont wurde, sollten alle von den 28 Mitgliedstaaten eingegangenen Verpflichtungen auch von den 28 Mitgliedstaaten eingehalten werden. Dies gilt auch für ein No-Deal-Szenario: In einem solchen Fall würde vom Vereinigten Königreich erwartet, dass es weiterhin alle während seiner EU-Mitgliedschaft eingegangenen Verpflichtungen einhalten würde.
Durch diesen Vorschlag wird die EU in die Lage versetzt, bei einem Austritt des Vereinigten Königreichs ohne Abkommen ihren Verpflichtungen nachzukommen und bei vor dem 30. März 2019 unterzeichneten Verträgen bzw. getroffenen Entscheidungen auch im Jahr 2019 Zahlungen an Begünstigte im Vereinigten Königreich zu leisten, sofern das Vereinigte Königreich seinen Verpflichtungen gemäß dem EU-Haushalt für 2019 nachkommt und die erforderlichen Rechnungsprüfungen und Kontrollen akzeptiert. So könnten die erheblichen Auswirkungen eines No-Deal-Austritts auf eine Vielzahl von Bereichen, die mit EU-Mitteln gefördert werden, wie Forschung, Innovation oder Landwirtschaft, abgemildert werden.
Die Frage einer Finanzregelung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich in einem Szenario, bei dem keine Einigung erzielt wurde, ist gesondert zu betrachten.
Die nächsten Schritte
Die Europäische Kommission wird eng mit dem Europäischen Parlament und dem Rat zusammenarbeiten, um die Annahme der vorgeschlagenen Rechtsakte sicherzustellen, damit diese bis zum 30. März 2019 in Kraft treten. Die Kommission weist ferner das Europäische Parlament und den Rat darauf hin, dass es wichtig ist, dass delegierte Rechtsakte so rasch wie möglich in Kraft treten.
Hintergrund
Am 14. November 2018 einigten sich die Verhandlungsführer der Kommission und des Vereinigten Königreichs auf den Wortlaut des Austrittsabkommens. Am 22. November 2018 billigte die Kommission das vollständige Austrittsabkommen. Am 25. November 2018 billigte der Europäische Rat (nach Artikel 50) das Austrittsabkommen und ersuchte die Kommission, das Europäische Parlament und den Rat, die erforderlichen Schritte zu unternehmen, um sicherzustellen, dass das Abkommen am 30. März 2019 in Kraft treten kann, sodass der Austritt geordnet erfolgt. Die Ratifizierung des Austrittsabkommens im Vereinigten Königreich ist derzeit ungewiss.
Am 5. Dezember 2018 nahm die Kommission zwei Vorschläge für Beschlüsse des Rates über die Unterzeichnung bzw. den Abschluss des Austrittsabkommens an. Damit das Austrittsabkommen in Kraft treten kann, muss der Rat die Unterzeichnung des Textes im Namen der Union genehmigen. Anschließend muss das Europäische Parlament seine Zustimmung erteilen, bevor das Abkommen vom Rat abgeschlossen werden kann. Das Austrittsabkommen muss vom Vereinigten Königreich im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert werden.
Die Ratifizierung des Austrittsabkommens ist und bleibt Ziel und Priorität der Kommission. Wie die Kommission in ihrer ersten Mitteilung zur Vorbereitung auf den Brexit vom 19. Juli 2018 betont hat, wird der Beschluss des Vereinigten Königreichs, die Europäische Union zu verlassen, unabhängig vom geplanten Szenario erhebliche Störungen verursachen.
Die Interessenträger sowie die nationalen und EU-Behörden müssen sich daher auf zwei mögliche Hauptszenarien vorbereiten:
Wird das Austrittsabkommen vor dem 30. März 2019 ratifiziert, tritt das EU-Recht ab dem 1. Januar 2021, d. h. nach einer Übergangsphase von 21 Monaten, für das Vereinigte Königreich und in dessen Hoheitsgebiet außer Kraft. Im Austrittsabkommen ist die Möglichkeit vorgesehen, den Übergangszeitraum einmalig um bis zu einem oder zwei Jahren zu verlängern.
Wird das Austrittsabkommen hingegen nicht vor dem 30. März 2019 ratifiziert, gibt es keine Übergangsphase und das EU-Recht tritt ab dem 30. März 2019 für das Vereinigte Königreich und in dessen Hoheitsgebiet außer Kraft. Dies wird als No-Deal-Szenario oder als „Sturz in den Abgrund“ bezeichnet.
Im vergangenen Jahr hat die Kommission 88 sektorspezifische Mitteilungen zur Vorbereitung auf den Brexit veröffentlicht, um die Öffentlichkeit über die Folgen eines Austritts des Vereinigten Königreichs ohne Austrittsabkommen zu informieren. Sie sind in sämtlichen Amtssprachen der EU verfügbar. Mit den heute präsentierten Vorschlägen hat die Kommission nun 18 Legislativvorschläge im Zusammenhang mit ihrer Vorbereitung auf den Brexit und der Notfallplanung vorgelegt. Die Kommission hat auch auf fachlicher Ebene Beratungen mit den Mitgliedstaaten der EU-27 über die Vorbereitung auf den Brexit geführt, bei denen sowohl allgemeine Fragen als auch besondere sektorspezifische, rechtliche und verwaltungstechnischen Schritte erörtert wurden. Die in diesen Seminaren verwendeten Präsentationen sind online verfügbar. Die Kommission hat auch damit begonnen, die 27 EU-Mitgliedstaaten zu besuchen, um sicherzustellen, dass die nationale Notfallplanung planmäßig verläuft und um alle etwaigen Unklarheiten hinsichtlich des Vorbereitungsprozesses zu beseitigen.
Links zum Thema:
Überblick über die heute angenommenen Texte
Fragen und Antworten zum „Notfallplan“ der Kommission vom 19. Dezember 2019
Website der Europäischen Kommission zur Vorbereitung auf den Brexit (mit Link zu den Mitteilungen zur Vorbereitung auf den Brexit)
Präsentationen über die Vorbereitung auf den Brexit
Quelle dieser Informationen: EU-Nachrichten der Vertretung der EU-Kommission in Deutschland.