995. Sitzung des Bundesrates am 06.11.2020
TOP 21: „Europas Zukunft jetzt gestalten“
Rede von Europaministerin Birgit Honé
– Es gilt das gesprochene Wort –
Anrede,
Die vergangenen Monate der Pandemie, das wurde vielfach beschrieben, haben uns Dinge mit Dringlichkeit vor Augen geführt, die auch vorher schon existierten, die aber weniger sichtbar waren.
Gesellschaftliche Zustände etwa: Ungerechtigkeiten, etwa wenn wir an die Arbeitsbedingungen in der Pflege denken. Oder Zustände, die sich eingeschlichen haben in die Gesellschaft, etwa das Leugnen evidenter wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Zustände aber auch, die uns Mut machen, etwa gelebte Solidarität in der Nachbarschaft oder der Großfamilie.
Eines hat die Pandemie aber überdeutlich bewiesen, und zwar mit guten wie mit schlechten Erfahrungen: Alleine kann kein Land der Welt Zukunft gestalten. Wir brauchen Multilateralismus im Großen, für den wir uns (jetzt nach der US-Wahl) neue Chancen erhoffen. Wir brauchen Kooperation im Kleineren, wenn ich an die Euregios vor unserer Haustür denke.
Und vor allem brauchen wir eine starke, partnerschaftliche Zusammenarbeit in Europa – das mehr ist als ein Wirtschaftsraum.
Strong if united, das gilt doch auch im Kampf gegen das Virus, etwa bei der Versorgung Schwerkranker oder der Impfstoffsuche. Es gilt aber auch im Kampf gegen die Auswirkungen des Virus. Deshalb gilt es heute, Zeichen der Solidarität aus Deutschland in die EU zu senden.
Vergleicht man die heutige Situation mit dem Beginn der Pandemie, sieht man zwar viele Wiederholungen, leider v.a. bei den Infektionszahlen. Man sieht aber auch, wie weit die EU und die Mitgliedstaaten gekommen sind:
Anders als zu Beginn der Pandemie fällt kein einziger Mitgliedstaat in Kleinstaaterei zurück und drosselt so unnötig den Binnenmarkt. Auch die jetzt überall in den Bundesländern in Kraft gesetzten Schutzmaßnahmen schonen die Wirtschaft, wo es geht.
Es wurden zudem viele Instrumente geschaffen oder vorgeschlagen, die jetzt bzw. bald greifen können, um unsere Wirtschaft wieder voran zu bringen.
Die EU-Beihilferegelungen wurden an vielen Stellen angepasst, um Schutzmaßnahmen der Mitgliedstaaten zu ermöglichen.
Der vorgeschlagene Siebenjahreshaushalt und die Aufbau- und Resilienzfazilität „Next Generation EU“ können ganz zentrale Impulse für den Wiederaufbau setzen.
Dabei wird auch die EU von Grund auf umgestaltet: Zu nennen sind zwei institutionelle Innovationen: Die Möglichkeit der EU, sich – zumindest temporär – selbst zu verschulden und die Rechtsstaatskonditionalität. Ich werde darauf zurückkommen.
Wir stemmen uns der Corona-Krise entgegen mit allem, was wir aufbieten können – gesundheitspolitisch, wirtschaftspolitisch, auch sozialpolitisch
Aber auch ohne die Pandemie würden wir Europa derzeit wohl im Krisenmodus erleben: Denn neben Corona besorgt uns alle der Brexit mit seinen erheblichen Auswirkungen auf beiden Seiten des Ärmelkanals.
Die größte Herausforderung dieser und kommender Generationen jedoch bleibt der Klimawandel. Die Transformation der Industrie hat bereits begonnen. Nachhaltige Technologien werden entwickelt und setzen sich durch. Mit dem Green Deal und der europäischen Industriestrategie wird zu Recht ein ambitionierter Rahmen gesetzt.
Eine weitere Priorität ist die Stärkung der EU-27 im Bereich Forschung und Entwicklung. Das Ausscheiden des so forschungsstarken Vereinigten Königreichs macht das Thema für uns noch dringlicher. Prioritär ist auch der nachhaltige wirtschaftliche Wiederaufbau. Es hat sich gezeigt, dass Europa in vielen Branchen nicht eigenständig genug ist: Medizinische Versorgung, pharmazeutische Wirkstoffe und Schlüsseltechnologien sind hier zu nennen.
Umgekehrt darf der Wiederaufbau keine Entwicklungen verfestigen, die bereits vor der Krise überkommen waren: Die Ziele bei Klimaschutz dürfen nicht unter dem Deckmantel coronabedingter Aufbaumaßnahmen verwässert werden. Im Gegenteil: Die Corona-Krise ist eine Chance und ein Katalysator, die Transformation des EU-Binnenmarkts zum führenden Markt für klimafreundliche Technologien beschleunigt voranzutreiben.
Dabei heißt es auch, aus der Krise zu lernen. So wissen wir in Deutschland den Wert intakter Gesundheitssysteme zu schätzen. Übrigens Gesundheitssysteme, zu denen alle Zugang haben. Ein unschätzbarer Wert, nicht nur im Falle einer Pandemie.
Gleichzeitig wissen wir, wie wichtig globale Kooperationen sind, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) muss also gestärkt werden.
Anrede,
Der Europäische Rat hat sich Mitte Juli nach schwierigen Verhandlungen auf den kommenden Mehrjährigen Finanzrahmen sowie das bereits erwähnte Wiederaufbauprogramm geeinigt.
Ich möchte meinen Blick auf die Haushaltsverhandlungen richten: Die EU entwickelt sich rasant fort und nimmt ganz neue Integrationsimpulse auf. Gut so. Umso wichtiger dabei eine klare Orientierung auf ihre Grundwerte. Denn diese halten die EU von innen zusammen. Ohne die Grundwerte würde die Staatengemeinschaft trotz ihrer Wirtschaftskraft implodieren.
Die EU kann die jetzt notwendige Kraft für Veränderungen nur auf Grundlage gemeinsamer Werte aufbringen, nicht durch das Infragestellen derselben: Dass erstarkende nationale Egoismen die Gemeinschaft belasten, hat die Kleinstaaterei zu Beginn der Pandemie deutlich gezeigt.
Die Maßnahmen der EU zur Verteidigung unserer Grundwerte in den letzten Jahren haben nicht gefruchtet – ich erinnere an das Auslösen des Art. 7 Verfahrens gegen Polen.
Der Ast, auf dem wir alle sitzen, ist bereits brüchig. Alle, die den aktuellen Rechtsstaatsbericht der Kommission gelesen haben, wissen, wovon ich spreche.
Ein ganz wichtiger Aspekt bei den Haushaltsverhandlungen ist deshalb die Rechtsstaatskonditionalität.
Ich freue mich daher, dass der Vorschlag der Deutschen Ratspräsidentschaft seit der gestrigen Einigung im Trilog Geschichte ist und ein präventiver Ansatz gewählt wurde.
Demnach werden finanzielle Sanktionen bereits dann möglich, wenn wegen des Verstoßes gegen die Rechtsstaatlichkeit ein Missbrauch von EU-Mitteln droht.
Rechtsstaatskonditionalität bedeutet für mich nämlich zweierlei:
Erstens: Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit ohne Wenn und Aber. Das bedeutet: Keine Verengung auf die EU-Haushaltsführung oder Probleme beim Einsatz von EU-Mitteln.
Zweitens: Abstimmungsverfahren, die die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit nicht de facto unmöglich machen. Es geht um die Blockademöglichkeiten im Rat bzw. Europäischen Rat.
Für den Kampf für die Rechtsstaatlichkeit gibt einen ganz pragmatischen Grund: Es ist den Bürgerinnen und Bürgern nicht vermittelbar, erhebliche innergemeinschaftliche Solidaritätsleistungen zu erbringen, wenn die Beiträge in Mitgliedstaaten fließen, die sich nicht mehr an die rechtsstaatlichen Prinzipien halten.
Rechtsstaatskonditionalität folgt auch aus dem Wesen der Strukturpolitik. Sie ist gelebte Solidarität und keine Einbahnstraße.
Deshalb ist gerade jetzt ein klares Bekenntnis zu einer Rechtsstaatskonditionalität erforderlich, die diese Bezeichnung auch verdient.
Insofern freue ich mich über die gestrige Entscheidung zum Konditionalitätsmechanismus.
Anrede,
Ich bin sicher: Europas Zukunft lässt sich gestalten. Und zwar zum Besseren. Wir als Länder der Bundespublik Deutschland sollten unsere Stimmen aktiv in diese Arbeit einbringen.