02.08.2018 Brüssel – Gastbeitrag von Michel Barnier, Chefunterhändler der Europäischen Kommission für die Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich.
Das Vereinigte Königreich wird die Europäische Union am 29. März 2019 verlassen. Wir bedauern den Austritt, respektieren aber die souveräne Entscheidung des Landes. Unsere Aufgabe ist es nun, die Entflechtung des Vereinigten Königreichs aus den Institutionen und Politikbereichen der EU zu organisieren. Zugleich müssen wir nach vorn in die Zukunft schauen.
Mit ihren 440 Millionen Bürgerinnen und Bürgern und als eine der größten Volkswirtschaften der Welt bleibt die EU auch nach dem Brexit eine globale Größe. Das Vereinigte Königreich ist seit 45 Jahren Mitglied der EU. Wir haben gemeinsame Werte und etliche gemeinsame Interessen. Das Vereinigte Königreich, Mitglied der G7 und des UN-Sicherheitsrates, kann für die EU ein wirtschaftlich und strategisch wichtiger Partner sein. Angesichts der aktuellen geopolitischen Lage ist es in unserem Interesse, nicht nur die Rolle der EU in der Welt zu stärken, sondern auch eng mit dem Vereinigten Königreich zusammenzuarbeiten.
Wie können wir eine neue Partnerschaft erreichen?
Zunächst müssen wir sicherstellen, dass der Austritt des Vereinigten Königreichs geordnet verläuft. 80 Prozent des Abkommens über den Austritt sind ausgehandelt. Wir werden die Rechte von mehr als 4 Millionen Menschen schützen, die entweder als EU-Bürgerinnen und -Bürger im Vereinigten Königreich oder als britische Staatsangehörige in der EU leben. Dies hatte für uns oberste Priorität und war ein Aspekt, dem auch das Europäische Parlament große Aufmerksamkeit widmete. Das Vereinigte Königreich hat zudem zugestimmt, all seinen als EU-Mitglied eingegangenen finanziellen Verpflichtungen nachzukommen. Ein Übergangszeitraum von 21 Monaten wird Unternehmen und Verwaltungen Zeit geben, sich anzupassen; das Vereinigte Königreich würde bis zum 31. Dezember 2020 Teil unseres Binnenmarkts und der Zollunion bleiben.
Allerdings – 80 Prozent sind noch keine 100 Prozent. Wir müssen uns noch über wichtige Punkte wie den Schutz „geografischer Angaben“ einigen. Dies bezieht sich auf den Schutz örtlicher Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse wie schottischen Whisky oder Parmesan: Hier profitieren europäische Landwirte und Erzeuger ganz beträchtlich vom Schutz durch die EU. Wir müssen Lösungen für bestimmte britische Gebiete finden wie die Hoheitszonen des Vereinigten Königreichs auf Zypern sowie Gibraltar, über das bilaterale Verhandlungen zwischen Spanien und dem Vereinigten Königreich laufen.
Das größte durch den Brexit verursachte Risiko besteht auf der Insel Irland. Wir müssen sicherstellen, dass der Brexit keine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland schafft und dass das Karfreitagsabkommen, das Nordirland Frieden und Stabilität gebracht hat, gewahrt wird. Aktuell sind Zusammenarbeit und Austausch zwischen Irland und Nordirland in den gemeinsamen EU-Rahmen eingebettet. Da wir bis Herbst 2018 nicht wissen werden, wie sich die künftigen Beziehungen gestalten, brauchen wir ein Sicherheitsnetz, eine Art „Backstop“ im Austrittsabkommen. Das Vereinigte Königreich stimmt dem zu, und sowohl die EU als auch das Vereinigte Königreich haben erklärt, dass in Zukunft eine bessere Lösung gefunden werden könnte, die dieses Sicherheitsnetz überflüssig macht. Der Vorschlag der EU läuft darauf hinaus, dass Nordirland in einem gemeinsamen Regelungsbereich für Waren und Zölle mit der übrigen Europäischen Union verbleibt. Wir sind bereit, den Wortlaut unseres Vorschlags zu verbessern.
Zudem müssen wir uns auf die Gestaltung unserer künftigen Beziehung verständigen.
Seien wir ehrlich: Da das Vereinigte Königreich beschlossen hat, den Binnenmarkt zu verlassen, kann es dem Rest der EU wirtschaftlich nicht mehr so eng verbunden sein. Das Vereinigte Königreich will unseren gemeinsamen Regelungsbereich verlassen, in dem Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital frei über nationale Grenzen hinweg zirkulieren können. Dies sind die wirtschaftlichen Fundamente, auf denen die EU errichtet wurde. Der Europäische Rat – die 27 Staats- oder Regierungschefs – und das Europäische Parlament haben wiederholt daran erinnert, dass diese wirtschaftlichen Fundamente nicht geschwächt werden dürfen.
Das Vereinigte Königreich weiß um die Vorzüge des Binnenmarkts. Es hat in den vergangenen 45 Jahren dazu beigetragen, unsere Regeln zu gestalten. Und dennoch würden einige Vorschläge des Vereinigten Königreichs unseren Binnenmarkt – eine der größten Errungenschaften der EU – untergraben. Das Vereinigte Königreich möchte zwar am freien Verkehr von Waren, nicht aber am freien Verkehr von Personen und Dienstleistungen festhalten. Auch schlägt es vor, die EU-Zollvorschriften anzuwenden, ohne Teil der Rechtsordnung der Union zu sein. Das Vereinigte Königreich will die Souveränität und Kontrolle über seine Gesetze wiedererlangen, was wir respektieren. Es kann jedoch nicht von der EU verlangen, die Kontrolle über ihre Grenzen und Rechtsvorschriften aufzugeben.
Ich bleibe zuversichtlich, dass am Ende der Verhandlungen ein gutes Ergebnis stehen kann. Es ist möglich, die Grundsätze der EU zu wahren und eine neue, ehrgeizige Partnerschaft zu schaffen. Das ist es, was der Europäische Rat bereits im März vorgeschlagen hat. Die EU hat ein Freihandelsabkommen mit Nullzollsätzen und ohne mengenmäßige Beschränkungen für Waren angeboten. Sie hat eine enge Zusammenarbeit in Zoll- und Regulierungsangelegenheiten sowie den Zugang zu Märkten für öffentliche Aufträge vorgeschlagen, um nur einige Bespiele zu nennen.
Im Sicherheitsbereich strebt die EU eine sehr intensive Zusammenarbeit zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger und unserer demokratischen Gesellschaften an. Wir sollten einen wirksamen Austausch von Erkenntnissen und Informationen organisieren und sicherstellen, dass unsere Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten. Wir sollten im Kampf gegen Verbrechen, Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zusammenarbeiten. Wir können beim Austausch von DNA, Fingerabdrücken oder Fluggastdaten in der Luftfahrt kooperieren, um Terroristen und andere Straftäter effizienter aufzuspüren und zu identifizieren. Wir sind auch bereit, Mechanismen für schnelle, effektive Auslieferungen zu erörtern, die die Verfahrensrechte von Verdächtigen gewährleisten.
Wenn das Vereinigte Königreich hier mitzieht, und wenn wir rasch Lösungen für die noch ausstehenden Fragen des Austritts – einschließlich des „Backstops“ für Irland und Nordirland – finden, dann bin ich überzeugt, dass die EU und das Vereinigte Königreich eine Partnerschaft aufbauen können, die in Umfang und Tiefe beispiellos ist.
Links:
Brexit-Verhandlungen