Nicolas Schmit vor EU-Sozialgipfel: „Mitgliedstaaten müssen bei Sozialpolitik an einem Strang ziehen“ © Europäische Gemeinschaften, 1999, Quelle: EU-Kommission - Audiovisueller Dienst

07.05.2021 Brüssel. Vor dem Beginn des EU-Sozialgipfels in Porto hat Sozialkommissar Nicolas Schmit in einem Interview im Deutschlandfunk heute (Freitag) die Staats- und Regierungschefs aufgefordert, sich verstärkt für ein soziales Europa einzusetzen. Unter den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise leiden nach Einschätzung von Schmit vor allem Jugendliche, die Armut in Europa sei aber auch insgesamt gestiegen. Die Reden der Eröffnungs- und Schlusssitzung des ersten Tages des Gipfeltreffens in Porto werden live auf EbS übertragen, ebenso wie die Pressekonferenz mit den Präsidenten von der Leyen, Sassoli und Michel und dem portugiesischen Premierminister Costa, die gegen 19:40 Uhr MEZ stattfindet.

Um die Schäden der Krise zu minimieren, müsse mehr investiert werden, sagte Schmit. Das Geld der Corona-Hilfsfonds der EU gehe schließlich nicht nur in die Sozialpolitik, es diene vor allem dem Aufbau der Wirtschaft. Bei der Diskussion über Standards für Mindestlöhne in der EU gehe es nicht darum, den Mitgliedstaaten Kompetenzen abzusprechen.

„Wir brauchen in Europa in verschiedenen Ländern bessere Mindestlöhne. Aber wir wissen auch, dass es zwischen Bulgarien und Luxemburg keinen einheitlichen Mindestlohn geben kann. Aber wir glauben, dass es im Rahmen der wirtschaftlichen Möglichkeiten Anpassungen nach oben geben kann“, sagte Schmit. Er betonte, dass die Kommission nicht mehr Kompetenzen in der EU-Sozialpolitik fordere. „Wir haben einige Kompetenzen, wir teilen Kompetenzen mit den Mitgliedsstaaten, und am Ende sind es immer wieder die Mitgliedsstaaten, die diese Politiken umsetzen. Das was wir brauchen ist jetzt, dass die Mitgliedsstaaten an einem Strang ziehen, dass das Soziale nicht einfach unter den Tisch fällt, dass wir koordinierte Wirtschaftspolitik machen, aber auch koordinierte Sozialpolitik. Natürlich muss diese Sozialpolitik sich immer den verschiedenen Begebenheiten in den Mitgliedsstaaten anpassen.

Sozialpolitik ist Sache der Mitgliedsstaaten, aber es steht auch in den Verträgen, dass die Union Sozialpolitik zumindest ergänzen kann in Richtung mehr Harmonisierung, in Richtung sozialer Konvergenz. Das ist das, was wir tun. Wir wollen uns nicht an die Stelle der Mitgliedsstaaten in der Sozialpolitik setzen und festlegen, wie Rentensysteme in den verschiedenen Ländern organisiert sind oder ob Tarifpolitik oder Mindestlöhne existieren. Aber wir glauben daran, dass in einer mehr integrierten Wirtschaft – und so steht es auch in den Verträgen – auch Sozialpolitik gemeinsame Standards braucht. Wie die dann umgesetzt werden – okay, das ist Sache der Mitgliedsstaaten und der verschiedenen sozialen Systeme.

Was zählt sind die gemeinsamen Zielsetzungen. Wie man da hinkommt, das ist Sache der Mitgliedsstaaten. Keiner will jetzt das deutsche System der Tarifpolitik in Frage stellen. Ganz im Gegenteil! Wir sprechen uns eigentlich für eine Erweiterung und Stärkung dieses Systems aus. Das gilt ja auch, was Mindestlöhne anbelangt, wo ja viel Kritik ausgeübt wird. Wir schlagen nicht vor, jetzt in Schweden einen Mindestlohn einzuführen, wo 90 Prozent der Lohnfindung über Tarifpolitik passiert. Aber was wichtig ist, dass wir auch hier mehr Aufwärtskonvergenz überall in Europa haben. Das schlagen wir vor, nicht eine Vereinheitlichung.“

Vom Sozialgipfel in Porto erwartet Schmit das Signal, dass die soziale Dimension bei Wiederaufbau und Erneuerung der Wirtschaft einbezogen wird. „Um aus der Krise herauszuwachsen ist es Zeit, wieder auf das Soziale in der Marktwirtschaft zu setzen und das auch als Instrument zu gebrauchen um Europa zu stärken aber auch in den Mitgliedstaaten mehr Fairness zu erreichen.“

Im März legte die Kommission einen Aktionsplan zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte, zur Bewältigung der sozioökonomischen Folgen der Pandemie und der demografischen, gesellschaftlichen und technologischen Herausforderungen vor. Dazu gehören eine Beschäftigungsquote von mindestens 78 Prozent und Fortbildungsmöglichkeiten für mindestens 60 Prozent der Erwachsenen. Außerdem soll die Zahl der Menschen, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind, um mindestens 15 Millionen verringert werden. Der Aktionsplan schlägt auch Ziele auf EU-Ebene für Beschäftigung, Qualifikation und Sozialschutz vor, die bis 2030 erreicht werden sollen.

Am Sozialgipfel in Porto, der von der portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft organisiert wird, nehmen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die Exekutiv-Vizepräsidenten Vestager und Dombrovskis sowie die Kommissare Gabriel, Schmit und Ferreira teil. Der Sozialgipfel wird EU-Institutionen, Staats- und Regierungschefs, Sozialpartner und Vertreter der Zivilgesellschaft zusammenbringen. Ziel ist, das gemeinsame Engagement für ein starkes soziales Europa und einen fairen, integrativen und widerstandsfähigen Aufschwung zu erneuern. Die Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte steht im Mittelpunkt der Sitzungen, gefolgt von drei parallelen Workshops zu den Themen „Arbeit und Beschäftigung“, „Qualifikationen und Innovation“ sowie „Wohlfahrtsstaat und Sozialschutz“. Eine Pressemitteilung zu den Ergebnissen des ersten Tages des Gipfels wird heute Abend veröffentlicht.

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Das Interview in voller Länge

Quelle dieser Informationen: EU-Nachrichten der Vertretung der EU-Kommission in Deutschland.