Von der Leyen zur EU-Impfstoffstrategie: „Der Gegner ist das Virus“ © Europäische Union, 2020, Quelle: EU-Kommission - Audiovisueller Dienst, Fotograf*in: Etienne Ansotte

08.02.2021 Brüssel. Nach dem Impfstart in Deutschland und Europa hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ den europäischen Ansatz verteidigt und Stellung zur der Frage genommen, ob Entscheidungen schnell genug getroffen wurden. „Auch ich stelle mir diese Fragen jeden Tag: Hätten wir schneller sein können? Und wäre ein einzelner Mitgliedstaat schneller gewesen? Auf diese und andere Fragen, die viele Menschen zu Recht umtreiben, möchte ich einige Antworten geben“, so von der Leyen. Am Mittwoch, den 10. Februar stellt sich die Kommissionspräsidentin auch einer Debatte zur EU-Impfstoffbeschaffung im Plenum des Europäischen Parlaments.

In dem Gastbeitrag schreibt Präsidentin von der Leyen: „Zunächst: Ich bin fest von unserem gemeinsamen europäischen Ansatz überzeugt. Unser Ziel ist, dass jeder europäische Mitgliedstaat, egal ob groß oder klein, wohlhabend oder ärmer, fairen Zugang zu den Impfstoffen hat. Ja, es dauert vielleicht länger, Entscheidungen zu 27 zu treffen als allein.

Aber stellen Sie sich vor, was passiert wäre, wenn am Anfang nur ein oder zwei Mitgliedstaaten Impfstoffe erhalten hätten. Das wäre für einige große Staaten wie Deutschland denkbar gewesen. Aber was hätte das für unsere Einheit in Europa bedeutet? Diese Abkehr von unseren europäischen Werten hätte nicht wenige gestärkt, sondern alle geschwächt. Das wäre an die Grundfesten Europas gegangen.

Risiken bei Massenproduktion waren anfangs nicht klar

Auch der Vorwurf, ein früherer Vertragsabschluss hätte zu einer schnelleren Lieferung von Impfstoff geführt, führt in die Irre. Der Engpass liegt woanders. Die Herstellung eines neuen Impfstoffs ist eine unglaublich komplexe Angelegenheit. Alle drei bisher erfolgreichen Impfstoffhersteller mussten notgedrungen ihre Liefermengen in der Anfangsphase deutlich reduzieren. Dafür sind Probleme im Herstellungsverfahren ursächlich und die Tatsache, dass unter den Hunderten Komponenten, die benötigt werden, wichtige Inhaltsstoffe weltweit knapp sind.

Das ist angesichts der hohen Erwartungen schmerzlich, aber auch bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehbar. Wenn schon damals allen klar gewesen wäre, welche Risiken mit dem Start einer derartigen Massenproduktion verbunden sind, dann hätten wir früher auf allen Ebenen überhöhte Erwartungen an eine schnelle Impfung gedämpft. Immerhin handelt es sich um eine Produktionssteigerung, wie es sie bisher noch nie gegeben hat. Erst kürzlich hat uns der Vorstandsvorsitzende eines Unternehmens erklärt, dass sein Unternehmen noch im Jahr 2019 rund 100.000 Impfstoffdosen produziert hatte. In diesem Jahr soll seine Produktion auf eine Milliarde Dosen hochgefahren werden. Diese Leistung verdient Anerkennung.

Keine Abkürzungen bei der Sicherheit

Andere monieren, dass wir uns in der EU bewusst gegen eine Notzulassung binnen 24 Stunden wie in Großbritannien entschieden haben. Dazu stehe ich. Unsere Prioritäten waren: Sicherheit und Gründlichkeit. Deswegen haben wir auf EU-Ebene das Zulassungsverfahren zwar beschleunigt, aber beim Thema Sicherheit keine Abkürzungen erlaubt. Dieser Zulassungsprozess, der drei bis vier Wochen dauert, war und ist eine Investition in das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger.

In der EU haben wir daher Ende Dezember mit der Impfung begonnen, und bis Ende der vergangenen Woche sind in Deutschland schon fast drei Millionen Impfdosen verabreicht worden.

Das ist noch lange nicht genug. Aber es ist auch keine ganz kleine Zahl. Im Februar sollen die EU-Länder weitere 33 Millionen Dosen erhalten, im März 55 Millionen Dosen. Im zweiten Quartal 2021 dürften nach konservativen Schätzungen rund 300 Millionen zusätzliche Dosen ausgeliefert werden.

Darauf hätte vor einem Jahr, als die WHO den Ausbruch von Covid-19 zur Pandemie erklärte, noch kaum jemand zu hoffen gewagt. Normalerweise dauert die Entwicklung eines Impfstoffs zwischen fünf und zehn Jahren. Dieses Mal haben wir es mit vereinten Kräften in nur zehn Monaten geschafft. Wenn Sie so wollen, war die Wissenschaft schneller als die Industrie. Auf einmal gab es den Impfstoff, aber es fehlten eingefahrene Kapazitäten und stabile Zulieferketten, ihn sofort in Masse herzustellen.

EU hat Vorlaufkosten und Produktionskapazitäten vorfinanziert

Wir sind stolz, dass bei uns der erste in Europa zugelassene Covid-19-Impfstoff entwickelt wurde und auch bei uns, in der EU, in großem Umfang produziert wird. Dieser Erfolg, das ist mir wichtig, kommt nicht durch Zufall. Die EU hat den Impfstoffentwicklern einen Teil ihrer Vorlaufkosten auch für den Aufbau von Kapazitäten für die Massenproduktion vorfinanziert. Insgesamt stellte die EU vorab 2,9 Milliarden Euro bereit – ganz abgesehen von den vielen Milliarden, die Europa jedes Jahr für eine Forschungslandschaft ausgibt, die solche Erfolge überhaupt erst ermöglicht.

Transparenz über Lieferungen von Impfstoffen aus der EU

Daher erwarten wir nun auch, dass diese Investitionen Europas Bürgerinnen und Bürgern zugutekommen, die dringend auf Impfungen warten. Wir fordern Transparenz darüber, wohin außerhalb Europas jetzt Impfstoffe ausgeliefert werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Hersteller gegenwärtig seine Zusagen der Europäischen Union gegenüber nicht einhält. Um es klar zu sagen: Wir haben nicht die Absicht, Unternehmen, die ihre Verträge gegenüber der EU einhalten, in irgendeiner Weise einzuschränken. Gerade wurden zwei Lieferungen nach Kanada und eine Lieferung nach Großbritannien genehmigt. Aber wenn uns ein Unternehmen sagt, dass es der EU zugesagte Dosen nicht liefern kann, dann wollen wir schon genau wissen, was es anderen Parteien liefert.

Dass die EU bislang 2,3 Milliarden Dosen Impfstoffe für ihre Bürgerinnen und Bürger und ihre Nachbarländer sichern konnte, ist auch der guten und engen Zusammenarbeit mit allen 27 nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten zu verdanken. Es herrscht ein ständiger Informationsaustausch, und alle Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Und wir waren gemeinsam erfolgreich: Im Sommer wusste noch niemand, welcher Impfstoff die Zulassung schafft. Jetzt haben wir drei sichere Impfstoffe, und die Unternehmen Biontech/Pfizer, Moderna und Astra-Zeneca haben mit der Auslieferung begonnen. Weitere werden folgen.

Vergleich mit anderen Ländern: Kampf gegen Pandemie ist kein Sprint, sondern ein Marathon

Ich weiß, für einige steht jetzt der Vergleich mit anderen Ländern im Vordergrund, die früher aus dem Startblock kamen. Doch der Kampf gegen die Pandemie ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Während wir gegen das Virus kämpfen, verändert es sich ständig. Auch wenn glücklicherweise alles darauf hindeutet, dass unsere heutigen Impfstoffe auch gegen die Varianten wirksam sind, machen uns Mutationen Sorgen. Wir müssen uns schon heute auf ein Szenario vorbereiten, in dem das Virus nicht mehr mit den derzeitigen Impfstoffen ausreichend unterdrückt werden kann.

Deshalb arbeiten wir eng mit Wissenschaft und Industrie zusammen, um ohne Zeitverzögerung auch Impfstoffe gegen zukünftige Varianten entwickeln, zulassen und herstellen zu können. Natürlich ziehen wir dabei auch Lehren aus den Schwachpunkten, die sich im vergangenen Jahr gezeigt haben. Es geht wieder darum, mehr Produktionskapazitäten in Europa auszubauen. Denn Impfstoffe sind ein Gemeingut, dessen Bedeutung in Zukunft weiter zunehmen wird.

Wir werden diesen Kampf vereint gewinnen – gegen unseren gemeinsamen Gegner, das Virus.

Links zum Thema:

Gastbeitrag von Ursula von der Leyen auf FAZ.net

Website „Sichere Corona-Impfstoffe für die Menschen in Europa“

Website „Ein Jahr im Kampf gegen Corona“

Quelle dieser Informationen: EU-Nachrichten der Vertretung der EU-Kommission in Deutschland.